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Knien im Gottesdienst gegen das Absingen schmutziger Lieder – öffentliche Demütigung Jugendlicher im 19. Jahrhundert und 220 Jahre Schulpflicht in Bayern

Abb. 1: Positionsblatt von 1853 (Bayerische Vermessungsverwaltung)

Am 12. Dezember 1840 verschickte das Landgericht Starnberg an die Lokalschulinspektion von Unterpfaffenhofen sein Urteil über Feiertagsschüler*innen aus Germering, die öffentliches Ärgernis erregt hatten. Dieses Schreiben überdauerte im Stadtarchiv der Stadt Germering und kam neulich im Zuge der Digitalisierung der Unterlagen wieder ans Licht (Abb. 2-5). Sieben Jugendliche hatten sich auf dem abendlichen Heimweg von Unterpfaffenhofen nach Germering des Singens anstößiger Lieder schuldig gemacht.

Lautstarkes Absingen schmutziger Lieder würde in unseren Zeiten wohl eher ein Schmunzeln als eine Strafverfolgung nach sich ziehen. Im Jahr 1840 folgte eine Untersuchung des königlichen Landgerichts Starnberg, zu dessen Gerichtsbarkeit die Altdörfer von Unterpfaffenhofen und Germering noch bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts gehörten. Vielleicht war das strenge Vorgehen der Tatsache geschuldet, dass die lautstarken Sänger auch den zufällig vorbeikommenden Gerichtsdiener geschmäht hatten, immerhin eine Amtsperson. Letzteres sollte man auch heute noch tunlichst vermeiden!

 

Abb. 2: Archivalie von 1840 Seite 1

Auszug aus dem Schreiben vom Dezember 1840:
 
„Vom königlichen Landgericht Starnberg wird in der Untersuchung gegen die Feiertags Schüler und Schülerinnen von Germering … wegen ungebührlichen Betragens auf dem Heimwege von Unterpfaffenhofen nach Germering und wegen Singens schmutziger Lieder beschlossen
1. dass Johann Treuterer und Simon Wagner mit 8 Rutenhieben auf bloßen Rücken nebst dreimaligen Herausknien während der Christenlehre
2. dass Franz Eder, Ulrich Sedlmaier und Paul Lochner mit 8 Streichen auf die Hände nebst dreimaligen Herausknien in der Christenlehre
3. Maria Reger und Anna Vogg mit 3maligen Herausknien während dreier Sonn- und Feiertagschristenlehren bestraft und sämtliche Kinder respekt(ive) deren Eltern und Dienstherren die Kosten der Untersuchung und der Abordnung des Gerichtsdieners zur Vollziehung der Strafe zu zahlen haben.
 
 
 

Abb. 3: Archivalie von 1840 Seite 2

Gründe zur Rechtfertigung
 
….unterfingen sich Schüler und Schülerinnen der Feiertagsschule Germering, noch keines 15 Jahre alt, am Abende von Unterpfaffenhofen weg, wohin sie leider ohne Aufsicht … geschickt wurden bzw. nach Hause gingen, die Abendruhe dergestalt zu stören, dass der von Geschäften zufällig dazu gekommene Gerichtsdiener ihnen dieses verweisen und Ruhe gebieten musste. Nichts desto weniger schrien und sangen sie in gewisser Entfernung fort und unterfingen sich sogar, den Gerichtsdiener darüber noch zu verhöhnen und zu verspotten. …
Die Tat selbst ist ein sehr beklagenswertes Ereignis jugendlicher Verirrung und hat wohl allein ihren Grund in der geringen Aufsicht über diese Kinder im elterlichen oder dienstherrschaftlichem Hause, in der allgemeinen Verderbtheit der Sitten und in dem schlechten Beispiele, das in den meisten Häusern von der älteren Jugend den Kindern aufgestellt wird.
 
 
 

Abb. 4: Archivalie von 1840 Seite 3

 Allein der Verführung muss vorgebeugt, der unverdorbenen Jugend ein Beispiel der Strenge statuiert und Eltern und Erzieher aufmerksam gemacht werden, wie ernst das königliche Landgericht mit der Kinderzucht es nimmt … welch großen Wert man ... auf Sittenreinheit … zu Tage legt, … so ist die nichts desto weniger vielmehr überzeugt, dass nur den Erziehern es gelingen könne, diese Kinder ganz zu bessern und die k(önigliche) Lokalschulinspektion wird nicht aufhören, dieser Schule ein stilles Augenmerk zu widmen und zu verhindern suchen, dass … die Schule Germering der Pfuhl jugendlicher Sünden und Laster werde.
 

Abb. 5: Archivalie von 1840 Seite 4

Die diktierte Strafe soll nicht nur das öffentliche Ärgernis sühnen, daher die Vollstreckung so öffentlich als möglich gemacht wurde, sondern auch den Guten alle diejenigen bezeichnen, vorderen schädlichen Umgang sie sich zu hüten haben; sie soll aber auch bessern, …daher auch auf das Ehrgefühl hingewirkt und erwirkt werden sollte, dass der Eindruck der Strafe … bleibend und haftend sein sollte. …
Weil sowohl die Eltern als auch die Dienstherrschaften es an der nötigen Aufsicht dabei haben fehlen lassen, … so hat man die Tragung der Untersuchungskosten den Kindern zuerkannt, für die aber die Eltern oder Dienstherrschaften und zwar letztere ohne Abbruch am Lohn einzustehen haben.
Beschlossen Starnberg den 5ten Dezember 1840
Vom königlichen Landgericht Starnberg
Schöninger Landrichter“
 
 

Abb. 6: Urkataster 1809/10 (Bayerische Vermessungsverwaltung)

Schläge und Herausknien während der Christenlehre! In Regelverstößen von Kindern sah man damals den Ausdruck eines schlechten Charakters, der nur durch harte Strafen gebessert werden könne. Zugleich galt kindliches Fehlverhalten immer auch als Versäumnis der Eltern, Dienstherren und Lehrer. So entstand ein hoher gesellschaftlicher Druck sich richtig zu verhalten. Das Leben der Heranwachsenden war im 19. Jahrhundert streng durchgetaktet. Am 23. Dezember 1802 wurde in Bayern durch kurfürstliche Verordnung eine sechsjährige allgemeine Schulpflicht für Kinder zwischen  6 und 12 Jahren eingeführt. Die Zeit der Aufklärung hatte das staatliche Interesse an der Schulbildung geweckt, die vorher zumeist in den Händen der Kirche gelegen hatte. Man wollte der breiten Masse Bildung zukommen lassen, da man glaubte, Unwissenheit führe zu Unruhen und Revolution. Neben Schreiben, Lesen, Rechnen und Religion stand deshalb auch die Erziehung zu treuen, loyalen Untertanen auf dem Lehrplan. Die Begeisterung der Bevölkerung über die Schulpflicht hielt sich in
Grenzen. In Haus und Hof fehlten nun die billigen Arbeitskräfte, da die Kinder an sechs Tagen pro Woche in die Werktagsschule gehen mussten. Immerhin hatte man die Schulpflicht aber auf nur sechs Jahre festgelegt und im Sommer waren die Unterrichtszeiten deutlich kürzer, um den Eltern ihre Kinder für die notwendigen Feld- und häuslichen Arbeiten nicht zu lange zu entziehen. Die tatsächliche Wissensvermittlung aber war wohl eher überschaubar. Denn bereits am 12. September 1803 wurden alle bayerischen Städte, Märkte und Pfarrdörfer verpflichtet, Sonn- und Feiertagsschulen einzurichten, um das in der Werktagsschule Erlernte zu vertiefen. Ihr Besuch wurde für alle Kinder zwischen 13 und 18 Jahren verpflichtend. Das Abschlusszeugnis der Schule brauchte man, um später den elterlichen Hof zu übernehmen oder um heiraten zu können. So entstand der nötige Druck, die Schule zu besuchen. Man stelle sich das vor: die Heranwachsenden arbeiteten von Montag bis Samstag auf den Höfen ihrer Eltern oder Arbeitgeber, schufteten bei ihren Lehrherren oder in Anstellung, um am arbeitsfreien Sonntag nicht nur das Vieh zu versorgen und den Gottesdienst zu besuchen, sondern dann auch noch die Schulbank drücken zu müssen! Endete der Unterricht am Nachmittag, wartete oft noch ein langer Heimweg. In Germering diente damals als Schule das grundbare Gütl des Franz Killer in der Augsburger Straße (Abb. 6), in die sowohl die Germeringer als auch die Unterpfaffenhofener Kinder gingen. Viel Zeit für jugendlichen Übermut blieb da nicht!
Aber gerade diesen jugendlichen Übermut wollte man unterbinden. Neben der Wissensvermittlung hatte die Sonn- und Feiertagsschule das erklärte Ziel, die Freizeit der heranwachsenden Jugendlichen zu minimieren. Sie sollten von schädlichem Einfluss und insbesondere von den Wirtshäusern und Tanzlokalen ferngehalten werden. Schulisches und außerschulisches Verhalten der Schüler und auch der Lehrer standen damals unter strenger Kontrolle der Obrigkeit. Bei jährlichen Kontrollbesuchen wurden nicht nur die Leistungen der Schüler in den einzelnen Fächern beurteilt und protokolliert, sondern auch ihr Betragen in und außerhalb der Schule. Die „Folgsamkeit und das sittliche Betragen“ der Feiertagsschüler wurde im Protokoll der im Sommer 1838 in Germering abgehaltenen Lokalschulinspektion noch als „größtenteils sehr gesittet“ beschrieben. Auch das Verhalten der Eltern, welche „größtenteils die Bemühungen des Pfarrers und Lehrers“ unterstützten, fand lobende Erwähnung. Allerdings waren laut der Kategorie „Besuche von Wirtshäusern und Teilnahme an Tänzen“ bereits „einige fehlig und wurden bei dem k(öniglichen) Landgerichte … gerügt“. Das Visitationsprotokoll aus dem Sommer 1840 fällt kürzer aus. Das Verhalten der Schüler und Eltern wird darin lediglich als größtenteils gesittet beschrieben und das Vorrücken der Kinder gestattet. Der Vorfall vom Dezember 1840 fand dann allerdings seinen Eintrag in das Protokoll des Jahres 1841. Nicht nur wurde darauf hingewiesen, dass „das trotzige und unsittliche Betragen einiger Feiertagsschüler öffentlich getadelt und im Wiederholungsfalle mit polizeilicher Abstrafung bedroht“ wurde, sondern auch, dass sich unter den Feiertagsschülern „mehrere ausgelassene“ fänden.
Die öffentliche Bestrafung und Demütigung der sieben jugendlichen Übeltäter, die Schläge und das Herausknien während der Christenlehre sollte neben den körperlichen Schmerzen auch das Ehrgefühl der Delinquenten treffen. Nicht umsonst gilt Knien seit der Antike als Unterwerfungsgeste. Das Herausknien fand gezielt öffentlich statt und sollte „den Guten alle diejenigen bezeichnen, vor deren schädlichen Umgang sie sich zu hüten haben“. Die Übeltäter mussten entweder neben ihrem Platz oder vorne unter den Augen aller knien, während die Gemeinschaft saß. Und das an drei aufeinander folgenden Sonntagen! Solch staatlich verordnetes ‚am Pranger stehen‘ ist aus heutiger Sicht undenkbar. Selbst öffentliche Demütigungen in sozialen Netzwerken, sogenannte Hatespeeches werden nicht ohne Grund inzwischen sogar strafrechtlich geahndet. Das „Herausknien“ während des Gottesdienstes bzw. der Christenlehre war jedoch bis in das 20. Jahrhundert hinein eine allgemein übliche Strafe im kirchlichen und schulischen Bereich, die besonders gegen junge Leute ausgesprochen wurde. Verschärft wurde das „Niederknien“ oder auf bayrisch „Scheitlknien“ oftmals dadurch, dass der Delinquent auf einem spitzen, dreikantigen Holzscheit knien musste und die Hände nach vorne ausgestreckt gehalten werden mussten. Eine sehr schmerzhafte Angelegenheit.
Nach gängiger Auffassung traf auch die Eltern und Dienstherren der Übeltäter eine Mitschuld. Deshalb wurden sie verurteilt, die Kosten des Verfahrens zu übernehmen und den Gerichtsdiener für die Ausführung und Überwachung der Strafe zu bezahlen. Der geschmähte Gerichtsdiener bekam doppelt Genugtuung. Er durfte die Übeltäter öffentlich züchtigen und verdiente bei der Bestrafung!
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